DOPAMIN #1

Re:writing
Lina Atfah & Jan Wagner
Maschinenhaus Essen — 15.10.2023
von Florian Veelmann

Heimat ist ein Verb. Marcel Cremer hat das mal gemeint und sicherlich nicht erfunden. Heimat ist das, was uns flieht. Heimat ist auch Wanne-Eickel. Haben wir Heimat erreicht, haben wir sie verfehlt – weil Heimat auch immer Sehnsucht ist, hat er gemeint und wohl nicht erfunden. Mit dem Wort scheint es sich oft ähnlich zu verhalten. In der Hinsicht, dass das Wort, die Sprache, die Literatur eine Heimat werden kann, und in der Hinsicht, dass einen die Sehnsucht nach demjenigen Wort befallen kann, das jedes andere überflüssig macht. Ein Dichter, eine Dichterin darf es eigentlich nicht suchen, denn dann wäre jedes weitere Gedicht unnütz, aber in der Suche, die nicht abbricht, sind die Dichtenden dennoch heimisch.
Wir steigen durch die orange bestrahlten Zechenkatakomben zum Wort, zur Backsteinhalle, ein Waschbecken ersetzt die Taufschale. Da es nicht genug Sitzplätze gibt, müssen Besucher auf der Treppe sitzen. Selbst der Hund. Das titelgebende Dopamin, denn dies ist der erste Abend der Reihe DOPAMIN im Maschinenhaus Essen, hatte Lina Atfah zuvor bereits verteilt, als sie lachend Glückwünsche entgegennahm für den jüngst erworbenen Literaturpreis Ruhr. Ich denke mir, und weiß, dass es albern ist: Sie ist zu glücklich für eine Lyrikerin. Ich denke auch, dass Jan Wagner, der neben Lina Atfah vor uns sitzt, bestimmt ähnlich militärisch, mystisch streng und R-rollend seine Gedichte vortragen wird wie Paul Celan. Doch über den Giersch, den ich zumindest aus dem Hochbeet und vom Merkspruch „drei, drei, drei, bist mit Giersch dabei“ kenne, liest er verspielt und melodisch. Allein das Giersch-Gedicht hatte ich im Vorhinein für mich gelesen, jedoch wie eine Drohung, wie über ein gewaltiges Ärgernis, aber jetzt muss man schmunzeln. Dichten ist eine Suche. Eine Suche nach demjenigen Wort, das den Druck entlässt, die Angst; das von der Sehnsucht befreit, genau das zu meinen, was auch zu meinen ist. Zugleich, und darauf verweist Lina Atfah, wenn sie über Jan Wagners Gedichte spricht, ist ein Gedicht auch eine Eröffnung von Welt, eine Ausweitung, kein Beschränken. Der Blick, der auf ein Ding, auf ein Detail geworfen wird, ist wie ein Stein, der, wenn er einsinkt, seine konvexen Kreise auf der Wasseroberfläche nach sich zieht. Eine Krähe, die in einem Gedicht von Wagner beschworen wird, zieht eine weitere nach sich und dann noch eine.

Weil man zunächst nicht weiß, wovon Lina Atfah spricht, wenn sie ihre Gedichte in arabischer Sprache vorträgt, applaudiert man für die Art und Weise, wie sie vorträgt. Das Glückwunschsl.cheln verschwindet, die Lautstärke ihrer Stimme verdoppelt, verdreifacht sich, sie schwingt den Finger wie eine wütende Mutter, und man weiß nicht, was man falsch gemacht hat. Es braucht zwei, drei Gedichte, bis man sich der Sprache wirklich zuwenden kann und sich nicht wegducken möchte. Einem durch Hollywoodfilme erzogenen Gehirn mag die Assoziation kommen, dass hier etwas beschworen wird. Die vorgetragenen Übersetzungen machen verständlich, dass es um die großen Dinge geht, um Liebe, Gewalt, um Wut, Ärger, um Angst. Den Gegensatz betonen auch Atfah und Wagner, er schreibt über das Kleine, sie über das Große. Doch auch bei Atfah muss man schmunzeln, über den Galgenhumor, wenn ihm Platz gelassen wird. Und Atfahs Lächeln kehrt zurück, wenn das letzte Wort der Übersetzung vorgetragen ist. Der Druck ist abgelassen, zumindest für die Zeit, wie das Wort die Halle erfüllt. Zuletzt steht sie auf, denn der Ort verleite sie dazu, sie verkündet mit der bloßen Stimme, keine Beschwörung ist es, sondern eine Verkündigung. Dies ist das Wort, und dies ist seine Zeit (frei nach Laurie Anderson). Dies ist nicht nur die Zeit, immer wieder und wieder, sondern hier ist der Ort, den es auszufüllen gilt.

Heimat ist ein Verb. Nun, „dichten“ ist ganz sicher ein Verb, verspricht der Duden; die stetige Suche nach demjenigen Wort, das Einigung, das Trost bringt; dasjenige Wort, das ausdrückt, was Sache ist. Am Ende des Abends ist dieses Wort vielleicht, nur für einen kurzen Augenblick „Wanne-Eickel“, so seltsam das klingt. Doch vielleicht ist es das genau deswegen, weil es das Publikum in Lachen, weil es Heimat und Heimat, Zerstörung und Zerstörung, Hoffnung und Hoffnung, Mond und Mond, zusammenbringt.


Florian Veelmann, geboren in Oberhausen, studiert Germanistik und
Philosophie in Wuppertal. In seiner Freizeit schreibt er an Prosa-Texten, die ganz selten bei Wettbewerben, Literaturfestivals oder in Literaturmagazinen zu finden sind.